veroeffentlichungen:abschlussrede_anlaesslich_der_abschlussfeier_des_letzten_ledertechnikerlehrganges_2009_-_2011_und_anlaesslich_der_schliessung_des_lederinstitutes_gerberschule_reutlingen_-_stefan_banaszak

Abschlussrede anlässlich der Abschlussfeier des letzten Ledertechnikerlehrganges 2009 / 2011 und anlässlich der Schließung des Lederinstitutes Gerberschule Reutlingen

Reutlingen, den 29.07.2011 im großen Hörsaal des Lederinstitutes Geberschule Reutlingen

Sehr geehrte Absolventen des Technikerlehrgangs 2009/2011
Sehr geehrte ehem. Absolventinnen und Absolventen aller Lehrgänge zuvor
Sehr geehrte Gäste, Sehr geehrte Corona

liebe Absolventen, zunächst herzlichen Glückwunsch zu den bestandenen Prüfungen. Alle Prüfungen wurden absolviert und nun sind Sie hier, um diesen besonderen Tag zu feiern.

Liebe Corona, Sie wissen ja „Freud und Leid sind sehr nah beieinander“

Freude

  • dass Sie liebe Gäste heute gekommen sind
  • dass Sie liebe Absolventen es von Semester zu Semester geschafft haben
  • dass Sie als 1. Etappe den geprüften Prozessmanager Lederherstellung geschafft haben
  • dass Sie den Prüfungsstress gut überwunden haben
  • dass Sie die Philosophie der Lederherstellung überlebt haben
  • dass Sie nun geprüfte Prozessmanager und staatlich anerkannte Ledertechniker sind
  • dass Sie nicht nur theoretisch diesen Grad der Ausbildung erreicht haben, sondern nach der traditionellen Gerbertaufe am Gerberbrunnen in Reutlingen nun auch wirklich zum Kreis der „Reutlinger Gerber“ dazu gehören werden
  • dass die Mitarbeiter des Lederinstitutes Gerberschule Reutlingen - trotz der gleichzeitigen Schließung des Institutes - Sie bis zum Ende Ihrer Ausbildung begleitet haben
  • dass der Verein Eichenkranz e.V. nach 122 Jahren seines Bestehens Sie auch heute wieder - im Anschluss an diese Feierlichkeiten taufen wird
  • dass der Verein Eichenkranz e.V. 75 lange und kurze Exkursionen mit allen Absolventen veranstalten konnte
  • dass der Verein Eichenkranz e.V. fast 80.000 Euro Unterstützung für die Gemeinschaft der Gerber, d.h. für die Studenten des Lederinstitutes zur Verfügung gestellt hat
  • dass viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer über Jahrzehnte dem Verein Eichenkranz, dem Lederinstitut, den Gerbern und der Lederindustrie Treue gehalten haben und
  • Freude darüber, dass die Lederindustrie Sie braucht und Sie alle eine Arbeitsstelle oder die feste Aussicht auf eine Arbeitstelle haben


Leid

  • dass Sie alle durch unsere Mühlen mussten
  • dass Sie auch lernen mussten wo Ihre Schwächen sind - ob Sie wollten oder nicht!
  • dass das Wasser im Gerberbrunnen kalt ist
  • dass das Studentenleben für viele vorbei ist
  • dass Sie jetzt selber Geld verdienen müssen
  • dass das Lernen trotzdem weiter geht - auch im Berufsleben!
  • dass das Lederinstitut Gerberschule Reutlingen geschlossen wird

und genau darum möchte ich mich zunächst bei meinen Kolleginnen und Kollegen vom Lederinstitut Gerberschule Reutlingen bedanken und damit allen Mitarbeitern, dass Sie liebe Mitarbeiter alle zusammen - obwohl Sie längst aufgegeben und allein gelassen wurden und sogar 3 Monate ohne Lohn und Brot Ihre Arbeit tapfer zum Wohl der Absolventen und natürlich damit zum Wohl und Nutzen der Lederindustrie fortgeführt haben. Für viele von Ihnen mit dem Ziel der künftigen Arbeitslosigkeit!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ihnen gehört daher im besonderen Maße Respekt entgegengebracht, weil Sie Ihre Moralvorstellungen und Ihr Verantwortungsbewusstsein nicht abgelegt haben und bis zum Schluss die Absolventen absolvieren ließen.
Sie haben Größe, Aufrichtigkeit und Mut gezeigt!

Jetzt möchte ich Ihnen - liebe Absolventen - in mehrfacher Hinsicht gratulieren.
Zum bestandenen geprüften Prozessmanager Lederherstellung IHK Reutlingen. Der Prozessmanager ist der moderne Industriemeister, den das Lederinstitut Gerberschule Reutlingen für die Deutsche Lederindustrie - zusammen mit der IHK Reutlingen - auf modernste Inhalte geformt hat und 2008 eingeführt wurde. Das war harte Arbeit und hat viel Zeit gekostet.
Inhalte wie z.B.:

  • Produktionsprozesse
  • Prozessmanagement
  • Führung und Zusammenarbeit
  • Ausbildereignung

haben zusammen mit den normalen ledertechnologischen und allgemeinen Fächern den aktuellen Stand der Technik ermöglicht und den Wünschen und Anforderungen der Lederindustrie entsprochen.

Glückwunsch auch:

  • Zum bestandenen Ledertechniker LGR Reutlingen
  • Und zum Prädikat „letzte Ledertechniker LGR“


Sie sind vermutlich die letzten Gerber die noch

  • die „betriebliche Aufgabe“ einpaukten
  • die noch lernten was nicht in Produktbeschreibungen steht
  • die noch Vorschläge der chemischen Industrie auf die Philosophie und Anforderungen Ihrer Arbeitgeber, den Gerbereien und Lederfabriken, anpassen können oder
  • die Wünsche der Gerber in der chemischen Hilfsmittelindustrie umsetzen können
  • die noch einen Urläuter von Degras unterscheiden können
  • die Achat und Egrase nicht für eine Fremdsprache halten
  • die Bezeichnung 1-5-8 sofort als Schwödebrei-Regel erkennen
  • die noch Tapir-, Elefant-, und Schollenschrumpf sowie Saffian mit Flächenverlust in Verbindung bringen
  • die noch - bevor ein Produkt mehr eingekauft wird - 2 Produkte in Frage stellen
  • die noch Leder angreifen und begreifen, spüren und fühlen und im Kopf die Rezeptur nicht mehr los werden
  • die in diesem Zusammenhang Organoleptik nicht für einen Anfall halten
  • die einen Entwässerungseffekt nicht für eine Krankheit halten oder für den Tag nach der Eichenkranzkneipe

und noch vieles mehr…

Genau das macht Sie zu einer Spezies mit besonderen Eigenschaften.
Dazu möchte ich nochmals gratulieren und wünsche Ihnen von ganzen Herzen, dass Sie die erlernte Entscheidungsfähigkeit und im Besonderen die Unabhängigkeit - genauso wie bei allen Absolventen zuvor - umsetzen dürfen.

In Anbetracht der Tatsache, dass die 1600 Absolventen des Lederinstitutes zzgl. Gesellen und Meister-, abzüglich derer die mittlerweile im Ruhestand sind oder den Beruf gewechselt haben zu 95% im Ausland leben und arbeiten, darf von einer globalen Verwendung unserer Absolventen ausgegangen werden.

Die zusätzliche Tatsache, dass weltweit

  • ca. 55 % aller hergestellten Leder Schuhoberleder, Täschnerleder und Feintäschnerleder sind und
  • ca. 15 % aller hergestellten Leder für die Bekleidungslederindustrie gefertigt werden -Jacken, Hosen, Westen, Hemden und Handschuhe aller Art und
  • ca. 20 % aller hergestellten Leder für die Möbel- und Automobilindustrie Verwendung finden, wobei der Anteil der Automobilleder zwar steigend ist aber die 7-8% Weltmarktanteil noch nicht übersteigen

Die Anforderungen an unsere Absolventen -global betrachtet- waren hinsichtlich der verschiedenen Bereiche wie Schuhe, Bekleidung, Möbel- und Automobile stets sehr hoch. Die damit verbundene fundamentale ledertechnologische Grundausbildung, einschließlich der erweiterten und produktspezifischen Ausbildung hinsichtlich der weltweiten Lederarten und Lederhilfsmittel ist bezogen auf die zuvor genannten Lederbereiche unabdingbar und Mindestanforderung beim täglichen Umgang eines Ledertechnikers mit dem Werkstoff Leder in den Gerbereien oder bei der Beratung der Gerber durch die chemische Industrie, sowie bei der Forschung und Entwicklung.

Sicher wäre es wünschenswert, dass zusätzlich zu der zuvor genannten fundamentalen ledertechnologischen Grundausbildung und der erweiterten ledertechnologischen Ausbildung auch andere Nicht-Leder-Flächenwerkstoffe Beachtung finden sollten. Das setzt aber mind. die Erhaltung der anwendungstechnischen / ledertechnischen Ausbildung voraus und sollte / könnte dann mit Fachkunde zu anderen Flächenwerkstoffen erweitert werden.
Um ledertechnologische Grundlagen oder sogar erweiterte ledertechnologische Zusammenhänge vermitteln zu können, ist nicht nur der Zugriff auf möglichst vollständige Literatur zum Thema Lederherstellung / Ledertechnik notwendig, sondern auch eine gehörige Portion

  • Erfahrung
  • Anwendungssicherheit
  • ein breites Wissen um globale ledertechnoligische Abläufe
  • tiefe Einblicke in den Stand der Technik
  • in die Hilfsmittelindustrie und nicht zuletzt
  • Wissen über ledertechnologische Probleme der Gerber
  • von der Rohware bis zum fertigen Lederprodukt oder Objekt aus und mit Leder


Ebenso wichtig sind unschätzbare Erfahrungen im Handel, in der Verarbeitung, in der Anwendung und im Gebrauch von Leder, bzw. Lederprodukten. Das tiefe Eindringen in den zuvor genannten Bereichen spiegelt in der Gesamtheit das Wissen und die Erfahrung als fundamentale Grundvoraussetzung wieder.
Hier reicht es nicht aus eine Aufgabe übertragen zu bekommen - hier muss die Aufgabe gelebt werden und das nicht immer wieder neu sondern im Rahmen der Evolution, Veränderung und Entwicklung und immer im Bezug zu Leder und im Bezug zu allen damit verbundenen Themen.

Ungeachtet der Schließung eines Institutes, wie das Lederinstitut Gerberschule Reutlingen, ohne dabei die Nachvollziehbarkeit solcher Entscheidungen in Frage zu stellen, befürchten wir in den zuvor genannten Bereichen einen unglaublichen Verlust spezifischen Wissens und eine gezielte Unterbrechung der Evolution / der weiteren Entwicklung in der Gesamt - Lederthematik. Hier geht es nicht um den Standort Reutlingen in einer isolierten Betrachtungsweise - hier geht es um Leder, um die Lederindustrie und allen damit verbundenen und angrenzenden Bereichen in der Gesamtheit und im Speziellen.

Die Übergabe von Wissen in gezielter, in dynamischer oder automatischer Form sowie die Übergabe von Wissen durch Wechsel innerhalb Abteilungen, Instituten, Gerberereien, der chemischen Industrie etc. sind sicher zusätzliche Faktoren der Wissensverbreitung.

Hier seien die Wandergesellen - die Gerbergesellen auf Wanderschaft - die im Grunde aufgrund der damals fehlenden Mobilität Ihre Erfahrungen durch Wanderschaft von Gerber zu Gerber und von Land zu Land erfahren durften. Das war hart und aufwendig und stand natürlich in direkter Verbindung zum Leben des Gerbergesellen.

Wahlspruch:
Hier reicht es nicht aus eine Aufgabe übertragen zu bekommen - hier muss die Aufgabe gelebt werden. Man lebt in und mit den Aufgaben und den Erfahrungen.

Wenn man die Geschichte des Lederinstitutes Gerberschule Reutlingen betrachtet, wurde auch hier stets Wissen aufgenommen und abgegeben. Einige Mitarbeiter der damaligen Deutschen Gerberschule in Freiberg migrierten 1954 und auch noch später zum Lederinstitut nach Reutlingen.Aber auch von Generation zu Generation wurde Wissen und Erfahrung innerhalb des Lederinstitutes in Reutlingen stets weiter gegeben.

  • Von Prof. Dr. Ing. habil. Hans Herfeld als Direktor der Westdeutschen Gerberschule von 1957 - 1974 († 03.04.2002)

an

  • Prof. Dr. Wilhelm Pauckner als Direktor der Westdeutschen Gerberschule von 1974 - 31.12.1992 († 01.04.2001) und dann

an

  • Dr. H.-P. Germann als Direktor des Lederinstitutes Gerberschule Reutlingen seit 1993 bis heute zur Schließung in 2011

auch der

  • LederpapstHerr Lange Dipl.-Chem. J. Lange war Abteilungsleiter Materialprüfung und für die Gutachtenerstellung von 1972 – 1997 († 12.05.2002) tätig und konnte sein breit gefächertes Wissen übertragen

und viele Mitarbeiter und natürlich auch Absolventinnen und Absolventen konnten erheblich davon in Ihrer Entwicklung profitieren.
So geschah es auch beim

  • LedergottHerrn Gerhard E. Moog (Mo2G), der als Dozent für Technologie und Leiter der Lehrgerberei 1974 bis 2001 tätig war. Herr Moog hatte 2001 die zuvor erläuterten Zusammenhänge in einer „Moog-typischen“ Art und Weise symbolisch verdeutlicht. So kam es bei der Übergabe seiner Aktivitäten an seinen Nachfolger zu eben dieser Symbolik. Hier überreichte Herr Moog am 01.08.2001 - also vor fast genau 10 Jahren - diesen Staffelstab hier. Dieser Staffelstab zeigt die Symbolik für eine „Gemeinsame Sache in Abhängigkeit der Staffel, Gruppe und Industrie“. Von der Lederindustrie für die Lederindustrie und für das Leder war Credo und Lebensinhalt. Aber der Staffelstab hat auch noch ein Innenleben.

Ein Innenleben, Sie beachten bitte die Wortzusammensetzung „Innen und Leben“.
Der Stab selbst steht für:

  • die Industrie
  • das Leder
  • Lederinstitut Gerberschule Reutlingen
  • Mitarbeiter


und im Inneren des Stabes findet man klare Vorsätze, Staffelregeln und Regeln für die Gemeinschaft:

  • Ein klares Ziel
  • Stets wache Augen
  • Ein feines Gehör für Zwischentöne
  • Einen scharfen Blick, um auch zwischen den Zeilen zu lesen
  • Geduld und Bedachtsamkeit
  • Das Glück des Tüchtigen
  • Andere teilhaben lassen
  • Freude auch an kleinen Erfolgen
  • Das Gefühl für den richtigen Zeitpunkt
  • Vertrauen
  • Die rechte Distanz
  • Dankbarkeit


Ledertechnologie und Philosophie gepaart mit Tugenden und Vorsätzen in der Zusammenarbeit und im Leben miteinander.
Jetzt stelle ich der Lederindustrie, bzw. stellvertretend Ihnen die Frage:

  1. An wen und wohin darf ich diesen Staffelstab überreichen?
  2. Wohin und an wen dürfen die gesammelten Erfahrungen von 57 Jahren und der Zeit davor in Ihrer Gesamtheit übergeben werden?


Vor 57 Jahren von der Lederindustrie, BRD und BW, Stadt RT und Verbänden etc. gegründet, gelebt, geschafft, entwickelt, geforscht und Maßstäbe gesetzt. Nach 57 Jahren wird der Staffelstab begraben.
Die Aussage eines Vertreters der Lederindustrie war:

  • es reicht wenn Absolventen Rezepturen lesen können

Vergleichen wir es bitte mit einem Koch der nur die Rezepte lesen kann!

Liebe Absolventen - erhalten Sie bitte den Geschmack den man zum Kochen braucht! Ihnen alles Gute und einen guten Start in das Berufsleben

Reutlingen, den 29.07.2011
Stefan Banaszak


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